Interview mit Manuel Dressler von der Edinburgh Business School
In Sachen Digitalisierung hinkt Deutschland hinterher. Der Großteil der Unternehmen schöpft Möglichkeiten der Digitalisierung und Automatisierung bislang nicht aus. Dabei ist besonders im Rechnungswesen und Controlling das Potenzial groß. Weshalb Projekte jedoch oft scheitern, ist unter anderem Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen von Manuel Dressler*. Im Interview mit stellvertretendem BVBC-Geschäftsführer Kenan Häberle verrät der Doktorand und Leiter des Konzernrechnungswesen einer mittelständische Industrie-Holding mehr über den Hintergrund seiner Forschung und ruft zur Beteiligung an seiner aktuellen Befragung auf.
Digitalisierung ist eines der meistgebrauchten Buzzwords in der heutigen Zeit. Jedes Projekt steigt in der Wahrnehmung, sobald es in Zusammenhang mit Digitalisierung gebracht wird. Diese Projekte reichen von einfachen Änderungen in Prozessabläufen – beispielsweise E-Mail- statt Postversand – bis zu tiefgreifenden Veränderungen – etwa durch die Neueinführung eines ERP-Systems. Doch viele Projekte scheitern. Je größer, die mit dem Projekt verbundenen Veränderungen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es die anfangs gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Dies trifft insbesondere auf Digitalisierungs- und Softwareimplementierungsprojekte zu. Grundsätzlich sind die Ursachen dieses Scheiterns breit erforscht. Nichtsdestotrotz sind erfolgreiche Digitalisierungsprojekte selten und Verlustmeldungen aus der Abschreibung solcher Projekte in der Wirtschaftspresse regelmäßig zu finden.
In seiner Forschungsarbeit beschäftigt sich Manuel Dressler, der berufsbegleitend an der Edinburgh Business School der Heriot-Watt University promoviert, vor allem mit den Gründen für das Scheitern von Digitalisierungsprojekten im Finanz- und Rechnungswesen deutscher Unternehmen sowie mit Strategien, um die Wahrscheinlichkeit für erfolgreiche Projekte zu erhöhen.
Kenan Häberle: Herr Dressler, wie kamen Sie zu Ihrem Forschungsthema?
Manuel Dressler: Der Grund liegt im Wesentlichen in meiner täglichen Arbeit. Seit meiner Ausbildung begleiten mich im datengetriebenen Bereich des Finanz- und Rechnungswesens Digitalisierungsprojekte – seien es kleinere, prozessorientierte Projekte wie Dokumentenablagemanagement oder größere, konzernweite Projekte wie der Wechsel von Papier-basierten innerkonzernlichen Saldenabstimmungen auf ein Online-Tool. Auffällig an diesen Projekten war, dass nahezu alle, in unterschiedlicher Ausprägung, auf Ablehnung gestoßen sind. Teilweise aus – für Unbeteiligte – nachvollziehbaren rationalen Gründen, teilweise nicht. Da einige Projekte erfolgreicher waren als andere, blieb für mich die Frage nach dem Warum bzw. wie man den Erfolg eines Projektes wahrscheinlicher machen kann. Hierfür haben Solberg et. al. (2020) ein spannendes Konzept, das „Digital Mindset“, entworfen.
Das „Digital Mindset“ stellen Sie in den Fokus Ihrer Studie – was genau ist darunter zu verstehen?
Das „Digital Mindset“ ist ein Konzept, das zur Beantwortung der gerade aufgeworfenen Frage beitragen soll. Dieser Ansatz fußt auf einer Kombination der Mindset- und Verhandlungstheorie. Die Basis dieses Konzeptes bilden zwei persönliche Annahmen eines jeden Individuums:
- Glaube ich an angeborenes Talent und daran, dass meine Fähigkeiten unveränderlich sind (Fixed Mindset) oder glaube ich an die Möglichkeit, meine Fähigkeiten durch Arbeit, Training und Lernen verbessern zu können (Growth Mindset)?
- Nehme ich die Digitalisierung als ein Nullsummenspiel (zero-sum) wahr, in dem der Gewinn des Einen der Verlust des Anderen ist (etwa in Bezug auf Jobs) oder bietet die Digitalisierung die Chance einer Win-Win-Situation – zum Beispiel Wohlstandsgewinne (expendable-sum)?
Durch die Beurteilung dieser Annahmen lassen sich Personen in vier Gruppen einteilen (vgl. Abb.). Dabei ist wichtig, dass keine Gruppe per se als gut oder schlecht zu beurteilen ist. Jede dieser Gruppen weist im Mindset spezifische Charakteristika auf, die in keinem Fall als positiv oder negativ zu bewerten sind. Vielmehr bieten sie eine Einsicht, mit welcher Herangehensweise, Motivation und Führung digitale Projekte durchgeführt werden sollten, um als erfolgreich betrachtet zu werden.
Zu den Themen Change-Management und Digitalisierung wird seit vielen Jahren geforscht, unzählige Studien befassen sich mit den Herausforderungen und Chancen. Wie hebt sich Ihr Projekt ab?
Betrachtet man die verhältnismäßig lange Forschungstradition von Change-Management seit der Mitte des letzten Jahrhunderts und die weiterhin hohe Quote an gescheiterten Projekten wird deutlich, dass noch immer Bedarf an Lösungsansätzen besteht. Das Konzept des „Digital Mindsets“ hebt sich insoweit von bisherigen Forschungen ab als es die individuelle Wahrnehmung von Veränderungen einzelner Personen in den Fokus stellt und daraus Handlungsempfehlungen ableitet. Zwar gab es auch in dieser Richtung schon Forschungsansätze, allerdings ist die Kombination von persönlicher Einschätzung von Lernfähigkeit und persönlich empfundenen Vorteilen bisher einzigartig.
Wie wichtig ist es für Unternehmen und Fachkräfte, sich mit der immer weiter voranschreitenden Digitalisierung im Rechnungswesen auseinanderzusetzen?
Rechnungswesen ohne digitale Tools gibt es im Prinzip nicht mehr. Als einer der datengetriebensten Unternehmensbereiche ist das Rechnungswesen grundsätzlich prädestiniert für den Einsatz digitaler Technik und kann bzw. muss eine Vorreiterrolle einnehmen. Daher ist die Frage nicht ob, sondern womit und in welchem Detailgrad sich mit der weiter voranschreitenden Digitalisierung auseinandergesetzt werden muss. Veränderung und die Akzeptanz dieser digitalen Tools sind für Unternehmen überlebenswichtig, gerade in disruptiven Zeiten wie jetzt. Durch die Digitalisierung rückt die Realisierung von Träumen des Rechnungswesens, wie Echtzeitreporting und automatisierte Planungsrechnung für Unternehmen jeder Größenordnung in greifbare Nähe – von den daraus ableitbaren Renditeoptimierungen durch präziseres Working-Capital-Management und ähnlichem ganz zu schweigen.
Welche Schlüsse lassen sich aus Ihrem Forschungsprojekt für Digitalisierungsprojekte in der Praxis ziehen?
Meine Forschung soll zukünftigen Digitalisierungsprojekten, die es im datengetriebenen Bereich des Finanz- und Rechnungswesens zweifelsfrei geben wird, ein Instrument zur Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit an die Hand geben.
Aus diesem Grund führe ich eine Online-Befragung durch, um die Verteilung des Digital Mindsets im deutschen Finanz- und Rechnungswesen aufzunehmen. Die Umfrage finden Sie unter folgendem Link: surveymonkey.de/r/Digital-Mindset-BVBC
Ich freue mich auf eine rege Teilnahme! Bei Fragen zu diesem Forschungsprojekt stehe ich Ihnen unter der Mailadresse md153@hw.ac.uk gerne zur Verfügung.
⇒ Jetzt an der Befragung teilnehmen – Helfen auch Sie mit, Strategien für ein digitales Rechnungswesen zu finden!
* Manuel Dressler, 29, promoviert berufsbegleitend an der Edinburgh Business School der Heriot-Watt University. Als Leiter Konzernrechnungswesen der IBG Industrie-Beteiligungs-Gesellschaft mbH & Co. KG betreut er regelmäßig Digitalisierungsprojekte im Finanz- und Rechnungswesen.